„Mann, das ist doch ein Kunstwerk“, empörte sich eine rothaarige Frau mit Bauplänen unterm Arm, unverkennbar eine Architekturstudentin.
„Aber was in Gottes Namen soll es denn darstellen, junge Frau?“, schaltete sich ein Dritter in die Diskussion ein.
„Keine Ahnung von Kunst“, giftete die Rothaarige zurück, dieses Mal zwar leiser, aber umso bissiger. Und zu ihrer Freundin gewandt, fügte sie noch hinzu: „Wenn man Kunst immer erst erklären muss! Na ja, du weißt schon“. Dann kicherten sie miteinander und versuchten, ihre Unsicherheit abzuschütteln. So jedenfalls empfand es der Kommissar.
Er hätte zu gerne die Oberfläche aus der Nähe betrachtet, doch es gab noch kein Durchkommen. Einige hockten auf dem Rasen, andere lagen den Kopf in die Hände gestützt, auf dem Boden und starrten unverwandt den Koloss empor. Man hätte schon über sie hinwegsteigen müssen.

An den Gesichtern war abzulesen, dass sich niemand fragte, woher so plötzlich über Nacht solch ein riesiges Gebilde kommen könne. Studenten der TU hätten doch wissen müssen, dass solch ein Koloss weder auf der Straße noch durch die Luft zu transportieren sei. Nirgends war ein Abdruck von einem Schwerlasttransporter noch von einem Helikopter zu entdecken. Komisch, das Ding war nicht einmal wesentlich in den Boden eingesunken, obwohl es dem Beklopfen nach sehr schwer sein musste. Das hatte Körber alles schon beobachtet, wusste aber noch keine plausible Antwort.

Allmählich lichtete sich der Haufen. Vermutlich begann irgendwo eine wichtige Vorlesung.
Jetzt konnte auch Körber die Riesenkartoffel berühren, wozu er sich mächtig nach oben strecken musste. Schließlich nahm er die Pfeife aus dem Mund und meinte zu Kalle gewandt: „Wie Stein fühlt es sich jedenfalls nicht an.“
„Aber schau dir doch einmal diese Poren an, Körber, wie kleine Krater, deren Ränder geschmolzen sind.“
„Du denkst doch nicht etwa, dass dies hier ein Meteorit ist!“
„Natürlich weiß ich das, zumindest kann er nicht vom Himmel gefallen sein, sonst gäbe es uns und ganz Berlin jetzt nicht mehr. Aber vielleicht ist es ja ein Replikat, das man hier aufgestellt hat.“
„Also wenn du mich fragst“, erklärte Körber, „Metall kann das nicht sein, solch ein schwerer Brocken wäre viel tiefer in die Erde eingesunken, selbst wenn man ihn hier ganz vorsichtig hingestellt hätte“. Und wie zum Beweis klopfte er noch einmal mit den Knöcheln dagegen, um zu demonstrieren, dass das Ding wirklich nicht hohl sei.
„Also was ist es denn nun“, entfuhr es Kalle schon etwas gereizt, wobei er hilflos die Arme ausbreitete und erst Körber und dann Waldi ansah. Der Kommissar ließ diesmal sein Pfeifchen im Mund, was intensives Nachdenken bedeutete, das wusste sein Schöpfer noch von früher, als er seine Romanfiguren noch formte und dadurch täglich mit Körber zu tun hatte.
Schließlich nuschelte er vor sich hin: „Reg dich nicht auf, morgen stehts sowieso in allen Zeitungen.“

Schweigend traten sie den Rückweg an, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Aus dem Reichstag eilte ihnen eine Gruppe entgegen. Als sie Merkel und Westerwelle erkannten, wie sie umringt von Bodyguards heftig miteinander diskutierten, blieben sie stehen. Aber nur so viel drang an ihre Ohren. „Also … mich hat man nicht informiert“, entrüstete sich die Bundeskanzlerin, wobei sich die Falten um ihren Mund verräterisch vertieften. Westerwelle ging auf Angelas Entschuldigung nicht ein und tönte kämpferisch seine Meinung dem Ding entgegen: „Wenn sich das bewahrheiten sollte, was ich jetzt denke, dann werde ich die Puppen tanzen lassen.“

Körber hätte die Gruppe gerne noch ein Stückchen begleitet, aber nach einem Blick auf die Uhr sagte er zu Kalle: „Du, wir müssen leider ...“ Widerwillig wandten sie sich ab und gingen zum Hauptportal zurück.
Den Blick nach innen gekehrt, begann der Kommissar mit sich selbst zu reden:
„Warum müssen die Leute eigentlich immer alles sofort einordnen, nummerieren, katalogisieren etc.? Und warum müssen sie den Dingen immer gleich einen Namen geben, noch bevor sie überhaupt verstehen, worum es sich handelt? Warum kann man damit nicht warten, bis sich alles aufgeklärt hat?
Man stelle sich einmal vor, ich hätte in meinem Berufsleben all die verhafteten Personen schon vor der Gerichtsverhandlung als Verbrecher abgestempelt, wie viele wären dann zu Unrecht verurteilt worden.

Aber diese jungen Leute hier gehen auseinander ein jeder überzeugt von seiner persönlichen Deutung dessen, was er gesehen hat“.
Körbers Stimme war laut geworden, sie klang empört, bisher ein völlig unbekannter Zug des Kommissars, dachte Kalle, während der Kommissar mit seinem Monolog schon wieder fortfuhr.
„Die Rothaarige wird herumerzählen, vor dem Reichstag stehe ein riesiges Kunstwerk eines unbekannten Künstlers. Der eine Mann wird allen berichten, die Stadt habe wieder einmal Geld zum Fenster herausgeschmissen. Und der andere mit dem altmodischen Hut wird überall verkünden, er habe einen heiligen Stein berührt, der nicht von Menschenhand stammen könne. Und die Studenten der technischen Fakultät werden versuchen, ihren Professoren zu beweisen, wie es eventuell doch möglich gewesen sein könnte, den Koloss über Nacht unbemerkt dort aufzustellen.“

Kalle drehte sich noch letztes Mal um, doch sein Blick irrte vergeblich über die Grünfläche. Ungläubig rief er nach Körber: „Du, schau doch mal, das Ding ist nicht mehr da! … Es ist weg“. Aber da war niemand mehr, der ihm hätte zuhören können. Auch Waldi war verschwunden. Irritiert und nachdenklich ging Kalle weiter, tastete im Gehen nach seinem Notizbuch und notierte sich den Titel für einen neuen Roman: „Das Ding“.

© Eberhard Malwitz