Das Ding

Kurzgeschichte von Eberhard Malwitz, Oktober 2009

Zwei Jahre lang hatte Kalle an seinem Roman geschrieben. Nun war der Krimi fertig und lag in den Buchläden aus. Eigentlich hätte er jetzt Zeit für ein neues Projekt gehabt. Doch die von ihm geschaffenen Romanfiguren ließen ihn nicht los. Sie waren in seinen Gedanken noch immer gegenwärtig. Ja, sie hatten sogar Gestalt angenommen und begleiteten ihn auf all seinen Spaziergängen.
Heute hatte er sich mit ihnen vor dem Berliner Reichstag verabredet. Als Kalle sich dem ehrwürdigen Gebäude näherte, erkannte er seine beiden Schöpfungen schon von Weitem, den Kommissar Körber − unverwechselbar mit seiner Pfeife − und Waldi, den Dackel. Seine Romanhelden saßen auf den Stufen zum Hauptportal und sahen Kalle erwartungsvoll entgegen. Waldi begann an der Leine zu zerren, bis der Kommissar ihn losmachte, damit er ihrem Schöpfer entgegenlaufen konnte. Doch diesmal kam alles anders:

Der Hund peste an Kalle vorbei quer über den Platz und überhörte jegliche „Kommst du mal her Rufe“. Sprachlos folgten seine Blicke dem wackelnden Hintern. Dunst lag noch über der Grünfläche. Dicht vor der Heinrich-von-Gagen-Straße schälte sich schemenhaft ein Menschenauflauf heraus, der sich um ein mächtiges Ding gebildet hatte. Irgendein großes, rundliches Gebilde ragte hoch aus der Menge hervor, unmöglich zu sagen, was es wohl sein könnte. Vielleicht ein Ballon, dachte Körber bei sich, als sie sich näherten.

Waldi war schon dort, hatte sich durch die Beine der Schaulustigen gedrängt und sich knurrend dicht davorgestellt. Als Körber und Kalle eintrafen, reihten sie sich in das letzte Glied der Menschenmauer ein und konnten das riesige Gebilde etwas genauer betrachten. Studenten, die auf dem Weg zur TU waren, hatte achtlos ihre Fahrräder hingeworfen und diskutierten miteinander.
„Hast du irgendeine Idee, was das sein könnte?“, fragte Kalle den Kommissar. Körber zögerte etwas mit der Antwort, aber daran war sein Schöpfer schon gewöhnt. Stattdessen stopfte der in aller Ruhe sein Pfeifchen, während sein Blick immer wieder über das Ding glitt. Dann sagte er: „Also ein Ballon ist das nicht.“
Die jungen Leute vor ihnen drehten sich mit einem nachsichtigen Lächeln um.
Doch Körber fuhr unbeirrt fort: „Wenn ihr mich fragt, hat es eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Riesenkartoffel“. Er sprach laut, weil es möglichst viele hören sollten.
Jetzt waren sie weit genug in die Menge vorgedrungen, um die albernen Bemerkungen mitzubekommen.
„Was haben die sich bloß dabei gedacht“, empörte sich ein Mann in ihrer Nähe, ließ aber offen, wen er damit eigentlich meinte.
Lachende, fröhliche Gesichter, wohin man auch sah. Alle wollten die Riesenkartoffel berühren, zumindest einmal dagegen klopfen. Jene, die ganz nahestanden, suchten die Oberfläche nach Öffnungen und Fugen ab, ja, vielleicht könnte man irgendwo sogar eine Inschrift oder Nummer entdecken. Manche drückten mit aller Gewalt dagegen, um zu prüfen, ob das Ding sich bewegen ließ, aber es schien massiv und schwer zu sein. Trotz des Gerangels um die vordere Reihe wich ein Mann − der mit dem altmodischen Hut − nicht von der Stelle. Inbrünstig presste er seine Handflächen dagegen und starrte unentwegt auf die Oberfläche, wobei er ständig seine Lippen bewegte, als ob er im Stillen betete. Der Einzige übrigens, der Ehrfurcht zu haben schien.
Viele warteten darauf, dass die da vorne endlich ihren Platz freigaben und spielten gelangweilt mit ihren Handys, hielten sie hoch, um zumindest ein Foto zu machen.

„Da hat sich der Senat aber ein kostspieliges Überraschungsei einfallen lassen“, platzte jemand lauthals lachend mit seiner Meinung heraus. mehr: